1. Harfenspieler I
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach! der ist bald allein;
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und läßt ihn seiner Pein.
Ja! Laßt mich meiner Qual!
Und kann ich nur einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht allein.
Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,
Ob seine Freundin allein?
So überschleicht bei Tag und Nacht
Mich Einsamen die Pein,
Mich Einsamen die Qual.
Ach, werd ich erst einmal
Einsam in Grabe sein,
Da läßt sie mich allein!
2. Harfenspieler II
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe An die Türen will ich schleichen,
Still und sittsam will ich stehn,
Fromme Hand wird Nahrung reichen,
Und ich werde weitergehn.
Jeder wird sich glücklich scheinen,
Wenn mein Bild vor ihm erscheint,
Eine Träne wird er weinen,
Und ich weiß nicht, was er weint.
4. Spottlied aus Wilhelm Meister
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Ich armer Teufel, Herr Baron,
beneide Sie um Ihren Stand,
um Ihren Platz so nah dem Thron
und um manch schön Stück Ackerland,
um Ihres Vaters festes Schloß,
um seine Wildbahn und Geschoß.
Mich armen Teufel, Herr Baron,
beneiden Sie, so wie es scheint,
weil die Natur vom Knaben schon
mit mir es mütterlich gemeint.
Ich ward, mit leichtem Mut und Kopf,
zwar arm, doch nicht ein armer Tropf.
Nun dächt ich, lieber Herr Baron,
wir ließen's bleiben wie wir sind:
Sie blieben des Herrn Vaters Sohn,
und ich blieb meiner Mutter Kind.
Wir leben ohne Neid un Haß,
begehren nicht des andern Titel,
Sie keinen Platz auf dem Parnaß,
und keinen ich in dem Kapitel.
5. Mignon I
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht,
Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen,
Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.
Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen,
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.
7. Mignon III
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe So laßt mich scheinen, bis ich werde,
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.
Dort ruh' ich eine kleine Stille,
Dann öffnet sich der frische Blick;
Ich laße dann die reine Hülle,
Den Gürtel und den Kranz zurück.
Und jene himmlischen Gestalten
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.
Zwar lebt' ich ohne Sorg' und Mühe,
Doch fühlt' ich tiefen Schmerz genung.
Vor Kummer altert' ich zu frühe;
Macht mich auf ewig wieder jung!
8. Philine
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Singet nicht in Trauertönen
Von der Einsamkeit der Nacht.
Nein, sie ist, o holde Schönen,
Zur Geselligkeit gemacht.
Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben
Und die schönste Hälfte zwar.
Könnt ihr euch des Tages freuen,
Der nur Freuden unterbricht?
Er ist gut, sich zu zerstreuen;
Zu was anderm taugt er nicht.
Aber wenn in nächt'ger Stunde
Süsser Lampe Dämmrung fließt,
Und vom Mund zum nahen Munde
Scherz und Liebe sich ergießt;
Wenn der rasche, lose Knabe,
Der sonst wild und feurig eilt,
Oft bei einer kleinen Gabe
Unter leichten Spielen weilt;
Wenn die Nachtigall Verliebten
Liebevoll ein Liedchen singt,
Das Gefangnen und Betrübten
Nur wie Ach und Wehe klingt;
Mit wie leichtem Herzensregen
Horchet ihr der Glocke nicht,
Die mit zwölf bedächtgen Schlägen
Ruh und Sicherheit verspricht.
Darum an dem langen Tage,
Merke dir es, liebe Brust;
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.
9. Mignon: Kennst du das Land?
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?
Dahin! dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach.
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut!
Kennst du ihn wohl?
Dahin! dahin
Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!
10. Der Sänger
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe "Was hör' ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!"
Der König sprach's, der Page lief,
Der Page kam, der König rief:
"Laßt mir herein den Alten!"
"Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
Gegrüßt ihr schönen Damen!
Welch' reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzen."
Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen:
Die Ritter schauten mutig drein,
Und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ, ihn zu lohnen für sein Spiel,
Eine goldne Kette holen.
"Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.
"Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet;
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen."
Er setzt' ihn an, er trank ihn aus:
"O Trank voll süßer Labe!
O, wohl dem hochbeglückten Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke."
11. Der Rattenfänger
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiß besonders nötig hat.
Und wären's Ratten noch so viele,
Und wären Wiesel mit im Spiele,
Von allen säubr' ich diesen Ort,
Sie müssen miteinander fort.
Dann ist der gut gelaunte Sänger
Mitunter auch ein Kinderfänger,
Der selbst die wildesten bezwingt,
Wenn er die goldnen Märchen singt.
Und wären Knaben noch so trutzig,
Und wären Mädchen noch so stutzig,
In meine Saiten greif ich ein,
Sie müssen alle hinterdrein.
Dann ist der vielgewandte Sänger
Gelegentlich ein Mädchenfänger;
In keinem Städtchen langt er an,
Wo er's nicht mancher angetan.
Und wären Mädchen noch so blöde,
Und wären Weiber noch so spröde,
Doch allen wird so liebebang
Bei Zaubersaiten und Gesang.
12. Ritter Kurts Brautfahrt
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Mit des Bräutigams Behagen
Schwingt sich Ritter Kurt aufs Roß;
Zu der Trauung solls ihn tragen,
Auf der edlen Liebsten Schloß;
Als am öden Felsenorte
Drohend sich ein Gegner naht;
Ohne Zögern, ohne Worte
Schreiten sie zu rascher Tat.
Lange schwankt des Kampfes Welle,
Bis sich Kurt im Siege freut;
Er entfernt sich von der Stelle,
Überwinder und gebleut.
Aber was er bald gewahret
In des Busches Zitterschein!
Mit dem Säugling still gepaaret,
Schleicht ein Liebchen durch den Hain.
Und sie winkt ihm auf das Plätzchen:
Lieber Herr, nicht so geschwind!
Habt ihr nichts an Euer Schätzchen,
Habt ihr nichts für Euer Kind?
Ihn durchglühet süße Flamme,
Daß er nicht vorbei begehrt,
Und er findet nun die Amme,
Wie die Jungfrau, liebenswert.
Doch er hört die Diener blasen,
Denket nun der hohen Braut;
Und nun wird auf seinen Straßen
Jahresfest und Markt so laut,
Und er wählet in den Buden
Manches Pfand zu Lieb und Huld;
Aber ach! da kommen Juden
Mit dem Schein vertagter Schuld.
Und nun halten die Gerichte
Den behenden Ritter auf.
O verteufelte Geschichte!
Heldenhafter Lebenslauf!
Soll ich heute mich gedulden?
Die Verlegenheit ist groß.
Wildersacher, Weiber, Schulden,
ach! Kein Ritter wird sie los.
13. Gutmann und Gutweib
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Und morgen fällt Sankt Martins Fest,
Gutweib liebt ihren Mann;
da knetet sie ihm Puddings ein
und bäckt sie in der Pfann.
Im Bette liegen beide nun,
da saust ein wilder West;
und Gutmann spricht zur guten Frau:
du, riegle die Türe fest.
Bin kaum erholt und habl erwarmt,
wie käm ich da zu Ruh;
und klapperte sie einhundert Jahr,
ich riegelte sie nicht zu.
Drauf eine Wette schlossen
sie ganz leise sich ins Ohr;
So wer das erste Wörtlein spräch,
der schöbe den Riegel vor.
Zwei Wanderer kommen um Mitternacht
und wissen nicht, wo sie stehn,
die Lampe losch, der Herd verglomm,
zu hören ist nichts, zu sehn.
Was ist das für ein Hexenort?
da bricht uns die Geduld!
Doch hörten sie kein Sterbenswort,
des war die Türe schuld.
Den weißen Pudding speisten sie,
den schwarzen ganz vertraut.
Und Gutweib sagt sich selberviel,
doch keine Silbe laut.
Zu diesem sprach der jene dann:
wie trocken ist mir der Hals!
Der Schrank, der klafft, und geistig riechts's,
da findet sich's allenfalls.
Ein Fläschen Schnaps ergreif ich da,
das trifft sich doch geschickt!
Ich bring es dir, du bringst es mir,
und bald sind wir erquickt.
Doch Gutmann sprang so heftig auf
unf fuhr sie drohend an:
bezahlen soll mit teurem Geld,
wer mir den Schnaps vertain!
Und Gutweib sprang auch froh heran,
drei Sprünge, als wär sie reich:
Du, Gutmann, sprachst das erste Wort,
nun riegle die Türe gleich!
14. Cophtisches Lied I
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Laßet Gelehrte sich zanken und streiten,
streng und bedächtig die Lehrer auch sein!
Alle die Weisesten aller der Zeiten
lächeln und winken und stimmen mit ein:
Töricht, auf Beßrung der Toren zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
eben zum Narren auch, wie sich's gehört!
Merlin der Alte, im leuchtenden Grabe,
wo ich als Jüngling gesprochen ihn habe,
hat mich mit ähnlicher Antwort belehrt:
Töricht, auf Beßrung der Tonen zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
eben zum Narren auch, wie sich's gehört!
Und auf den Höhen der indischen Lüfte
und in den Tiefen ägyptischer Grüfte
hab ich das heilige Wort nur gehört:
Töricht, auf Beßrung der Toren zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
eben zum Narren auch, wie sich's gehört!
15. Cophtisches Lied II
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Geh! Gehorche meinen Winken,
nutze deine jungen Tage,
lerne zeitig klüger sein;
auf des Glückes großer Wage
steht die Zunge selten ein;
Du mußt steigen oder sinken,
du mußt herrschen und gewinnen,
oder dienen und verlieren,
leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.
16. Frech und froh I
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Mit Mädchen sich vertragen,
mit Männern rumgeschlagen,
und mehr Kredit als Geld:
so kommtt man durch die Welt.
Mit vielem läßt sich schmausen,
mit wenig läßt sich hausen;
daß wenig vieles sei,
schafft nur die Lust herbei.
Will sie sich nicht bequemen,
so müßt ihrs eben nehmen.
Will einer nicht vom Ort,
so jagt ihn grade fort.
Laßt alle nur mißgönnen,
was sie nicht nehmen können,
und seid von Herzen froh;
das ist das A und O.
So fahret fort zu dichten,
euch nach der Welt zu richten.
Bedenkt in Wohl und Weh
dies goldne A B C.
17. Frech und froh II
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Liebesqual verschmäht mein Herz,
sanften Jammer, süßen Schmerz;
nur vom Tüchtgen will ich wissen,
heißem Äugeln, derben Küssen.
Sei ein armer Hund erfrischt
von der Lust, mit Pein gemischt!
Mädchen, gib der frischen Brust
nichts von Pein, und alle Lust.
18. Beherzigung
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser, ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?
Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?
Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die festen Felsen beben.
Eines schickt sich nicht für alle;
Sehe jeder, wie er's treibe,
Sehe jeder, wo er bleibe,
Und wer steht, daß er nicht falle!
19. Epiphanias
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Die heiligen drei König mit ihrem Stern,
Sie essen, sie trinken, und bezahlen nicht gern;
Sie essen gern, sie trinken gern,
Sie essen, trinken und bezahlen nicht gern.
Die heiligen drei König sind kommen allhier,
Es sind ihrer drei und sind nicht ihrer vier:
Und wenn zu dreien der vierte wär,
So wär ein heilger Drei König mehr.
Ich erster bin der weiß und auch der schön,
Bei Tage solltet ihr erst mich sehn!
Doch ach, mit allen Spezerein
Werd ich sein Tag kein Mädchen mir erfrein.
Ich aber bin der braun und bin der lang,
Bekannt bei Weibern wohl und bei Gesang.
Ich bringe Gold statt Spezerein,
Da werd ich überall willkommen sein.
Ich endlich bin der schwarz und bin der klein,
Und mag auch wohl einmal recht lustig sein.
Ich esse gern, ich trinke gern,
Ich esse, trinke und bedanke mich gern.
Die heiligen drei König sind wohlgesinnt,
Sie suchen die Mutter und das Kind;
Der Joseph fromm sitzt auch dabei,
Der Ochs und Esel liegen auf der Streu.
Wir bringen Myrrhen, wir bringen Gold,
Dem Weihrauch sind die Damen hold;
Und haben wir Wein von gutem Gewächs,
So trinken wir drei so gut als ihrer sechs.
Da wir nun hier schöne Herrn und Fraun,
Aber keine Ochsen und Esel schaun,
So sind wir nicht am rechten Ort
Und ziehen unseres Wegen weiter fort.
20. St. Nepomuks Vorabend
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Lichtlein schwimmen auf dem Strome,
Kinder singen auf der Brücken,
Glocke, Glöckchen fügt vom Dome
Sich der Andacht, dem Entzücken.
Lichtlein schwinden, Sterne schwinden;
Also löste sich die Seele
Unsres Heilgen; Nicht verkünden
Durft er anvertraute Fehle.
Lichtlein, schwimmet! Spielt, ihr Kinder!
Kinderchor, o singe, singe!
Und verkündiget nicht minder,
Was den Stern zu Sternen bringe!
21. Genialisch Treiben
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.
Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß;
Bald ist es Lieb, bald ist es Haß;
Bald ist es dies, bald ist es das;
Es ist ein Nichts, und ist ein Was.
So wälz ich ohne Unterlaß,
Wie Sankt Diogenes, mein Faß.
22. Der Schäfer
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Es war ein fauler Schäfer,
Ein rechter Siebenschläfer,
Ihn kümmerte kein Schaf.
Ein Mädchen konnt ihn fassen,
Da war der Tropf verlassen,
Appetit und Schlaf!
Es trieb ihn in die Ferne,
Des nachts zählt er die Sterne,
Er klagt und härmt sich brav.
Nun da sie ihn genommen,
Ist alles wieder kommen,
Durst, Appetit und Schlaf.
23. Der neue Amadis
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Als ich noch ein Knabe war,
Sperrte man mich ein;
Und so saß ich manches Jahr
Über mir allein,
Wie im Mutterleib.
Doch du warst mein Zeitvertreib,
Goldne Phantasie,
Und ich war ein warmer Held,
Wie der Prinz Pipi,
Und durchzog die Welt.
Baute manch kristallen Schloß
Und zerstört es auch,
Warf mein blinkendes Geschoß
Drachen durch den Bauch,
Ja, ich war ein Mann!
Ritterlich befreit ich dann
Die Prinzessin Fisch;
Sie war gar zu obligeant,
Führte mich zu Tisch,
Und ich war galant.
Und ihr Kuß war Götterbrot,
Glühend wie der Wein.
Ach! Ich liebte fast mich tot!
Rings mit Sonnenschein
War sie emailliert.
Ach! wer hat sie mir entführt?
Hielt kein Zauberband
Sie zurück vom schnellen Fliehn?
Sagt, wo ist ihr Land?
Wo der Weg dahin?
26. Die Spröde
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe An dem reinsten Frühlingsmorgen
Ging die Schäferin und sang,
Jung und schön und ohne Sorgen,
Daß es durch die Felder klang,
So lala! Lerallala!
Thyrsis bot ihr für ein Mäulchen
Zwei, drei Schäfchen gleich am Ort,
Schalkhaft blickte sie ein Weilchen;
Doch sie sang und lachte fort:
So lala! Lerallala!
Und ein Andrer bot ihr Bänder,
Und der Dritte bot sein Herz;
Doch sie trieb mit Herz und Bändern
So wie mit den Lämmern Scherz,
Nur lala! Lrallala!
27. Die Bekehrte
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Bei dem Glanz der Abendröte
Ging ich still den Wald entlang,
Damon saß und blies die Flöte,
Daß es von den Felsen klang,
So la la! . . .
Und er zog mich an sich nieder,
Küßte mich so hold und süß.
Und ich sagte: Blase wieder!
Und der gute Junge blies,
So la la! . . .
Meine Ruhe ist nun verloren,
Meine Freude floh davon,
Und ich höre vor meinen Ohren
Immer nur den alten Ton,
So la la, le ralla! . . .
28. Frühling übers Jahr
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Das Beet, schon lockert sichs in die Höh!
Da wanken Glöckchen so weiß wie Schnee;
Safran entfalltet gewaltge Glut,
Smaragden keimt es und keimt wie Blut;
Primeln stolzieren so naseweis,
Schalkhafte Veilchen, versteckt mit Fleiß;
Was such noch alles da regt und webt,
Genug, der Frühling, er wirkt und lebt.
Doch was im Garten am reichsten blüht,
Das ist des Liebchens lieblich Gemüt.
Da glühen Blicke mir immerfort,
Erregend Liedchen, erheiternd Wort,
Ein immer offen, ein Blütenherz,
Im Ernste freundlich und rein im Scherz.
Wenn Ros und Lilie der Sommer bringt,
Er doch vergebens mit Liebchen ringt.
29. Anakreons Grab
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Wo die Rose hier blüht,
wo Reben um Lorbeer sich schlingen,
Wo das Turtelchen lockt,
wo sich das Grillchen ergötzt,
Welch ein Grab ist hier,
das alle Götter mit Leben
Schön bepflanzt und geziert?
Es ist Anakreons Ruh.
Frühling, Sommer, und Herbst
genoß der glückliche Dichter;
Vor dem Winter hat ihn endlich
der Hügel geschützt.
30. Dank des Paria
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Großer Brahma! Nun erkenn ich,
Daß du Schöpfer bist der Welten!
Dich als meinen Herrscher nenn ich;
Denn du läßest alle gelten.
Und verschließest auch dem Letzten
Keines von den tausend Ohren;
Uns, die tief herabgesetzten,
Alle hast du neu geboren.
Wendet euch zu dieser Frauen,
Die der Schmerz zur Göttin wandelt!
Nun beharr ich anzuschauen
Den, der einzig wirkt und handelt.
31. Königlich Gebet
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Ha, ich bin der Herr der Welt!
Mich lieben die Edlen, die mir dienen.
Ha, ich bin der Herr der Welt!
Ich liebe die Edlen, denen ich gebiete.
O gib mir, Gott im Himmel,
Daß ich mich der Höh und Liebe
Nicht überhebe.
33. Erschaffen und Beleben
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Hans Adam war ein Erdenkloß
Den Gott zum Menschen machte,
Doch bracht er aus der Mutter Schoß
Noch vieles Ungeschlachte.
Die Elohim zur Nas hinein
Den besten Geist ihm bliesen,
Nun schien er schon was mehr zu sein,
Denn er fing an zu niesen.
Doch mit Gebien und Glied und Kopf
Blieb er ein halber Klumpen,
Bis endlich Noah für den Tropf
Das Wahre fand, den Humpen.
Der Klumpe fühlt sogleich den Schwung,
Sobald er sich benetzet,
So wie der Teig durch Säuerung
Sich in Bewegung setzet.
So, Hafis, mag dein holder Sang,
Dein heiliges Exempel
Uns führen, bei der Gläser Klang,
Zu unsres Schöpfers Tempel.
34. Ob der Koran von Ewigkeit sei
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach frag ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sei?
Das weiß ich nicht!
Daß er das Buch der Bücher sei,
Glaub ich aus Mosleminenpflicht.
Daß aber der Wein von Ewigkeit sei,
Daran zweifl' ich nicht;
Oder daß er vor den Engeln geschaffen sei,
Ist vielleicht auch kein Gedicht.
Der Trinkende, wie es auch immer sei,
Blickt Gott frischer ins Angesicht.
36. So lang man nüchtern ist
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe So lang man nüchtern ist, gefällt das Schlechte;
Wie man getrunken hat, weiß man das Rechte;
Nur ist das Übermaß auch gleich zuhanden:
Hafis, o lehre mich, wie du's verstanden.
Denn meine Meinung ist nicht übertrieben:
Wenn man nicht trinken kann, soll man nicht lieben;
Doch sollt ihr Trinker euch nicht besser dünken:
Wenn man nicht lieben kann, soll man nicht trinken.
37. Sie haben wegen der Trunkenheit
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Sie haben wegen der Trunkenheit
vielfältig uns verklagt
Und haben von unsrer Trunkenheit
lange nicht genug gesagt.
Gewöhnlich der Betrunkenheit
erliegt man, bis es tagt;
Doch hat mich meine Betrunkenheit
in der Nacht umhergejagt.
Es ist die Liebestrunkenheit,
die mich erbärmlich plagt,
Von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag
in meinem Herzen zagt,
Dem Herzen, das in Trunkenheit
der Lieder schwillt und ragt,
Daß keine nüchterne Trunkenheit
sich gleich zu heben wagt.
Lieb'-, Lied- und Weines- Trunkenheit,
obs nachtet oder tagt,
Die göttlichste Betrunkenheit,
die mich entzückt und plagt.
38. Was in der Schenke waren heute
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Was in der Schenke waren heute
Am frühsten Morgen für Tumulte!
Der Wirt und Mädchen! Fackeln, Leute!
Was gab's für Händel,für Insulte!
Die Flöte klang, die Trommel scholl!
Das war ein wüstes Wesen;
Doch bin ich, Lust und Liebevoll,
Auch selbst dabei gewesen.
Daß ich von Sitte nichts gelernt,
Darüber tadelt mich ein jeder;
Doch bleib ich weislich weit entfernt
Vom Streit der Schulen und Katheder.
39. Nicht Gelegenheit macht Diebe
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Nicht Gelegenheit macht Diebe,
Sie ist selbst der größte Dieb;
Denn sie stahl den Rest der Liebe,
Die mir noch im Herzen blieb.
Dir hat sie ihn übergeben,
Meines Lebens Vollgewinn,
Daß ich nun, verarmt, mein Leben
Nur von dir gewärtig bin.
Doch ich fühle schon Erbarmen
Im Karfunkel deines Blicks,
Und erfreu in deinen Armen
Mich erneuerten Geschicks.
40. Hochbeglückt in deiner Liebe
Author(s): Marianne von Willemer Hochbeglückt in deiner Liebe
Schelt ich nicht Gelegenheit,
Ward sie gleich an dir zum Diebe,
Wie mich solch ein Raub erfreut!
Und wozu denn auch berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl;
Gar zu gerne möcht ich glauben:
Ja, ich bin's, die dich bestahl.
Was so willig du gegeben,
Bringt dir herrlichen Gewinn;
Meine Ruh, mein reiches Leben
Geb ich freudig, nimm es hin!
Scherze nicht! Nichts von Verarmen!
Macht uns nicht die Liebe reich?
Halt ich dich in meinen Armen,
Jedem Glück ist meines gleich.
41. Als ich auf dem Euphrat schiffte
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Suleika:
Als ich auf dem Euphrat schiffte,
Streifte sich der goldne Ring
Finger ab, in Wasserklüfte,
Den ich jüngst von dir empfing.
Also träumt ich. Morgenröte
Blitzt' ins Auge durch den Baum,
Sag, Poete, sag, Prophete!
Was bedeutet dieser Traum?
42. Dies zu deuten bin erbötig
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Hatem:
Dies zu deuten bin erbötig!
Hab ich dir nicht oft erzählt,
Wie der Doge von Venedig
Mit dem Meere sich vermählt?
So von deinen Fingergliedern
Fiel der Ring dem Euphrat zu.
Ach, zu tausend Blumelsliedern,
Süßer Traum, begeisterst du!
Mich, der von des Indostanen
Streifte bis Damaskus hin,
Um mit neuen Karawanen
Bis ans rote Meer zu ziehn,
Mich vermählst du deinem Fluße,
Der Terrasse diesem Hain:
Hier soll bis zum letzten Kuße
Dir mein Geist gewidmet sein.
43. Hätt ich irgend wohl Bedenken
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Hätt ich irgend wohl Bedenken,
Balch, Bokhara, Samarkand,
Süßes Liebchen, dir zu schenken
Dieser Städte Rausch und Tand?
Aber frag einmal den Kaiser,
Ob er dir die Städte gibt?
Er ist herrlicher und weiser;
Doch er weiß nicht, wie man liebt.
Herrscher, zu dergleichen Gaben
Nimmermehr bestimmst du dich!
Solch ein Mädchen muß man haben
Und ein Bettler sein wie ich.
44. Komm, Liebchen, komm
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Komm, Liebchen, komm! Umwinde mir die Mütze!
Aus deiner Hand nur ist der Dulbend schön.
Hat Abbas doch, auf Irans höchstem Sitze,
Sein Haupt nicht zierlicher umwinden sehn!
Ein Dulbend war das Band, das Alexandern
In Schleifen schön vom Haupte fiel,
Und allen Folgeherrschern, jenen andern,
Als Königzierde wohlgefiel.
Dulbend ist's, der unsern Kaiser schmücket,
Sie nennen's Krone. Name geht wohl hin!
Juwel und Perle! sei das Aug entzücket:
Der schönste Schmuck ist stets der Muselin.
Und diesen hier, ganz rein und silberstreifig,
Umwinde, Liebchen, um die Stirn umher.
Was ist denn Hoheit? Mir ist sie geläufig!
Du schaust mich an, ich bin so groß als Er.
45. Wie sollt ich heiter bleiben
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Wie sollt ich heiter bleiben,
Entfernt von Tag und Licht?
Nun aber will ich schreiben,
Unt trinken mag ich nicht.
Wenn sie mich an sich lockte,
War Rede nicht im Brauch,
Und wie die Zunge stockte
So stockt die Feder auch.
Nur zu! Geliebter Schenke,
Den Becher fülle still!
Ich sage nur: Gedenke!
Schon weiß man, was ich will.
47. Locken, haltet mich gefangen
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Locken, haltet mich gefangen
In dem Kreise des Gesichts!
Euch geliebten braunen Schlangen
Zu erwidern hab ich nichts.
Nur dies Herz, es ist von Dauer,
Schwillt in jugendlichstem Flor;
Unter Schnee und Nebelschauer
Rast ein Ätna dir hervor.
Du beschämst wie Morgenröte
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.
Schenke her! Noch eine Flasche!
Diesen Becher bring ich Ihr!
Findet sie ein Häufchen Asche,
Sagt sie: Der verbrannte mir.
49. Prometheus
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh'n;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meines Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn', als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war
Nicht wußte, wo aus noch ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär'
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?
Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde.
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
50. Ganymed
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
Daß ich dich fassen möcht'
In diesen Arm!
Ach, an deinem Busen
Lieg' ich und schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.
Ich komm', ich komme!
Wohin? Ach, wohin?
Hinauf! Hinauf strebt's.
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
In eurem Schosse
Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen,
Alliebender Vater!
51. Grenzen der Menschheit
Author(s): Johann Wolfgang von Goethe Wenn der uralte
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Über die Erde sät,
Küß' ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Tief in der Brust.
Denn mit Göttern
Soll sich nicht messen
Irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.
Steht er mit festen
Markigen Knochen
Dauerndem Erde,
Reicht er nicht auf,
Nur mit der Eiche
Oder der Rabe
Sich zu vergleichen.
Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.
